Stefan Glettler Champion of Sculptures

Lucky Bounce
Stefan Glettlers Box Debüt

Fabian Avenarius Lloyd, Neffe von Oscar Wilde, Boxer und Dadaist der ersten Stunde, trat 1916 in der Plaza Monumental in Barcelona unter dem Pseudonym Arthur Cravan gegen den damaligen Weltmeister im Schwergewicht, Jack Johnson, zu einem legendären Kampf an. Er hielt sieben Runden durch, ehe er k.o. ging. Für Cravan war klar, dass Boxen Poesie ist. Die Koketterie von Künstlern mit dem Boxsport hat eine lange Tradition. Von Jonathan Swift und Lord Byron bis zu Ernest Hemingway und Norman Mailer waren es oft Literaten, die sich für diesen Sport begeisterten. 
Doch in der bildenden Kunst war die Begeisterung für das Boxen nahezu ebenso weit verbreitet. Exemplarisch stehen dafür die berühmten Fotos von Michael Halsband, die Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat in Boxer-Posen zeigen. Auch Joseph Beuys, der 1975 anlässlich der documenta 5 seinen Kampf – über drei Runden – für mehr direkte Demokratie und mehr Bürgerfreiheit gewann, ist hier zu nennen. Bereits in den 1920er-Jahren portraitierte der Maler George Grosz den deutschen Schwergewichtsweltmeister Max Schmeling mehrmals. Schmeling war auch das Modell für die Athletenstatuen am nationalsozialistischen Berliner Olympiastadion, was allerdings als übergriffig angesehen werden muss, war Schmeling doch ein erklärter Antifaschist.
Der irische Federgewichts-Champion Barry McGuigan wurde einmal gefragt, warum er Boxer geworden sei. „Weil ich kein Dichter geworden bin. Ich kann keine Geschichte erzählen…“. Jeder Boxkampf ist eine Geschichte, ein bis zum Äußersten verdichtetes Drama ohne Worte. Der Boxer bringt alles in den Kampf ein – alles, was er hat und was er ist. Gleichzeitig wird sich im Kampf auch alles zeigen, auch das, was der Boxer möglicherweise über sich selbst gar nicht weiß. Alles kann passieren. In Sekundenbruchteilen kann sich Unwiderrufliches ereignen, kann sich das Leben drastisch ändern. Boxen ist nicht Sport im Sinne von körperlicher Ertüchtigung und physischem Ausgleich. Boxen spielt man nicht, wie Tennis oder Fußball, Golf oder Eishockey. Boxen ist „the real shit“, ist das Leben selbst, das ständig in Gefahr ist. Üblicherweise boxt man nicht lange. Jede Niederlage kann ohnehin das Ende (von vielem) bedeuten. Das Ende einer Laufbahn kommen zu sehen und nicht rechtzeitig darauf reagieren, ist eines der großen Mysterien im Boxsport. Wann ist es Zeit aufzuhören? Wann kann man danach noch menschenwürdig leben? „They never come back.“ Floyd Patterson hat dieses eherne Gesetz des Boxsports als erster und Muhamad Ali hat es am öftesten übertreten. Vor allem Ali hat dafür einen hohen Preis bezahlt. 
In der Zeit des „Boxkünstlers“ Muhamad Ali aufgewachsen zu sein, ließ einem gar keine andere Wahl als die, ein begeisterter Boxsportfan zu sein, mitten in der Nacht aufzustehen und die Kultkämpfe aus Manila, Kinshasa, Las Vegas oder dem New Yorker Madison Square Garden mit Sigi Bergmann als legendärem ORF-Kommentator live zu verfolgen. Auf regionaler Ebene muss man dazu unbedingt auch die glanz- und leidvolle Karriere des österreichischen Rechtsauslegers Hans Orsolics bedenken, die in die Zeit der ausgehenden 1960er- bzw. beginnenden 1970er-Jahre fällt. Beide Sportler, Ali wie Orsolics, teilen auf ihrem jeweiligen Niveau ein ähnliches Schicksal – genial und tragisch zugleich.
„Iron Mike“ Tyson war, bis zum „Ohrwaschelbiss“1997 in der MGM-Grand Garden Arena von Las Vegas im WM-Kampf gegen Evander Holyfield, nach Ali der letzte große Box-Heros, der noch Massen zu bewegen im Stande war. Den Heutigen gegenüber ist dieser Befund etwas unfair, aber die allgemeine Begeisterung für den internationalen Boxsport hat stark nachgelassen.
Stefan Glettler, Ringname: „Champion of Sculptures“, Künstler, Bildhauer, Performer und Marcos Nader, Mittelgewichtschampion sowie Organisator der „Bounce Fight Night“ im Wiener Hotel Intercontinental, haben eine Fusion der besonderen Art realisiert. Boxen und bildende Kunst in Konfrontation. Glettlers Kunst sucht seit jeher den Kontakt. Dabei ist der Kontakt nicht symbolisch gemeint, sondern physikalisch. Seine „Dancers“, die er seit etwa 2016 entwickelt, sind bewegliche Skulpturen, die mit der Partizipation des Publikums rechnen. Nicht nur anstoßen, um ein leichtes Schaukeln zu erreichen, ist das Ziel, sondern tatsächliche Interaktion. Die Methode Glettlers ist es, diese Skulpturen auch materiell unüblich aussehen zu lassen. Unterschiedliches Material wird dabei neu kontextualisiert, Codes werden verändert und das Taktile wird in hohem Maß herausgefordert. So auch in diesem Projekt. Die „Bouncers“ sind aus Klettmaterial, überspannt mit farbigen Lederstreifen, die zugleich Dekor und Funktion darstellen. Den Skulpturen Glettlers ist die Struktur der „Stehaufmenschen“ eigen. Ein kugelförmiger Kern, der die Figur am Boden hält, sie schaukeln, aber niemals umfallen lässt, ist dabei zentral. „Sandsack“ und „Maisbirne“ sind die wesentlichsten Begleiter des Boxers. Stundenlang und immer wieder schlägt er abwechselnd auf sie ein und perfektioniert damit seine Kapazitäten. Es ist nicht wie beim Schachcomputer, dass man gegen derlei seriös antreten und sich messen könnte. Es sind einfach Trainingsgeräte, die schon seit der frühesten Zeit dieses Sports etabliert sind und die sich wohl niemals gegen ihren „User“ wenden werden. Glettlers „Bouncers“ haben sichtbar andere bzw. zusätzliche Qualitäten. Die zwei Arme ragen aus dem überlebensgroßen Körper heraus und können durch die Bewegung zu unkoordinierten, mitunter überraschenden „Moves“ führen. Ein „Lucky Punch“ des jeweiligen „Bouncers“ ist nicht ausgeschlossen. 
Nachdem das Wichtigste am Boxen wohl der Körper ist, und zwar einer, der fähig ist, gegen andere trainierte Körper anzutreten, ist die Schinderei des Trainings das eigentliche tägliche Vergnügen. Damit ist einiges gesagt, denn es ist nicht der Kampf, der an oberster Stelle steht. Es sind die Mühen der Ebene bzw. des Trainings, die vielen einsamen Stunden und die vielen inneren „Schweinehunde“, die man als Boxer stets ignorieren und überwinden muss. Die Disziplin, die das rigorose Trainingsprogramm erfordert, sowie die Einsamkeit dabei verbinden den Boxer mit dem Künstler. Auch der Künstler bzw. die Künstlerin steht unter dem Diktat der fanatischen Unterwerfung der eigenen Persönlichkeit unter ein selbstgewähltes Ziel bzw. Schicksal. Man könnte das zeitgebundene öffentliche Spektakel der „Fight-Night“ mit der Vernissage, der Buchvorstellung oder dem Premierenabend vergleichen. Davor stehen Atelierstunden und -tage, Probenzeiten, Drehtage, etc. 
Für Stefan Glettler ist Kunst keine geheime Sache, die sich im Atelier ereignet. Im Gegenteil, er fordert die Beteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen heraus. Er möchte soziale Kontexte aufbrechen und damit Elfenbeintürme einstürzen lassen.
Der Boxer ist aber zusätzlich noch aus einer anderen, sehr grundsätzlichen Betrachtungsweise interessant. Es geht dabei um die bewusste, willentliche Transformation von Empfindungen wie Schmerz – physischer genauso wie psychischer – in ihr Gegenteil. Dazu ist Intelligenz und strategisches Talent in hohem Maß vonnöten. Es wird wohl kaum jemanden geben, der oder die den Schmerz, die Demütigung, den Verlust, das Chaos und dergleichen zur Maxime erheben. Boxer müssen das tun, müssen leiden können, wenn sie viel erreichen wollen. Jake „Raging Bull“ LaMotta, Mittelgewichtsweltmeister von 1949 bis 1951, drückte es einmal sehr klar aus: „Boxen ist eher eine Sache des geschlagen Werdens als des Schlagens und es geht mehr darum, Schmerz und selbst schwerste psychische Ausfallerscheinungen auszuhalten als zu gewinnen.“ Ali, Orsolics oder auch schon viel früher Joe Louis konnten ein Lied davon singen.
Künstler*innen hören üblicherweise auch nicht auf. Man ist sich einig, dass sie das gar nicht können, wenn sie es je ernst gemeint haben. Es ist eine Lebensform, die von einer speziellen Logik begleitet wird und die Außenstehenden oft nur sporadisch zugänglich ist. War der Erfolg einst auch enorm, wird man ihn, wenn er nachlässt, auch immer wieder für möglich halten und dranbleiben. Der Schwergewichtsweltmeister zu Ende der 1950er-Jahre, Floyd Patterson, brachte auf den Punkt, worauf es ankommt: „Ich bin nie zu Boden gegangen. Ich war bewusstlos, aber ich bin nicht zu Boden gegangen.“
In der Kunst geht es nicht so direkt ums Leben. Eine Ausstellung entscheidet nicht über das körperliche Weiterleben, ein Werk verändert das Leben nicht so dramatisch, wie ein Kampf, in dem man k. o. geht. Stefan Glettler ist hier jedenfalls gemeinsam mit Marcos Nader ein guter Kampf gelungen, die „Bouncers“ haben sich fürs Erste bravourös geschlagen.

Günther Holler-Schuster 



im Rahmen der Bounce Fight Night am 2. Dezember 2023 im Intercontinental Hotel Wien.

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